1.2.1 Kinder unterschiedlichen Alters
Altersgemischte Gruppen im Kindergarten stellen für das einzelne Kind eine gewinnbringende Lerngemeinschaft dar. Die Kinder sind in der Regel zwischen drei und sechs Jahre alt. Eine Erweiterung dieser Altersmischung zeichnet sich ab, da sich der Kindergarten auch für Kinder unter drei Jahren öffnet. In Ausnahmefällen können auch schulpflichtige Kinder den Kindergarten besuchen. Während altersgemischte Gruppen aufgrund ihrer Heterogenität hohe Anforderungen an die Fachkräfte stellen, bieten sie den Kindern vielseitige Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten in einem sozial offenen Beziehungsfeld. Die Möglichkeiten zur Auswahl von Spiel- und Lernpartnern und -partnerinnen werden dadurch stark erhöht. In altersgemischten Gruppen interagieren Kinder häufiger mit Kindern des anderen Geschlechts und orientieren sich je nach Themenbereich an den Jüngeren oder an den Älteren. Dabei lernen sie vieles leichter als von Erwachsenen, denn die Erfahrungs- und Entwicklungsunterschiede sind zwischen Kindern leichter überwindbar. Aufgrund der natürlichen Entwicklungsunterschiede werden die Kinder stärker in ihrer Individualität wahrgenommen.
Im Austausch mit älteren und jüngeren Kindern lernt das Kind das Zusammenleben in einer altersgemischten Gruppe. Durch erfolgreiche Interaktionen mit Kindern unterschiedlichen Alters erwerben der Junge und das Mädchen vor allem ein erweitertes Spektrum sozialer Kompetenzen wie z.B. Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft, Durchsetzungsvermögen, Abgrenzungsfähigkeit und Geduld. Dadurch lernen Kinder auch, Hilfe von älteren Kindern mit mehr Erfahrung anzunehmen und weniger erfahrenen Kindern Hilfe anzubieten. Sie beginnen, sich selbst als Vorbild für andere zu begreifen und ihr eigenes Verhalten zu reflektieren. Sie erfahren, was es heißt, sich auf Unterschiede einzulassen und Konflikte in der Auseinandersetzung mit älteren, gleichaltrigen sowie auch jüngeren Kindern zu bewältigen und auf diese Weise eigene Interessen angemessen durchzusetzen und Rücksicht auf die Interessen anderer zu nehmen.
1.2.2 Mädchen und Jungen: geschlechterbewusste Bildung
Die Natur fällt die Entscheidung, ob ein Kind als Mädchen oder als Junge zur Welt kommt, und gibt damit die biologische Geschlechtszuordnung eines Menschen vor. Das soziale oder kulturelle Geschlecht unterliegt hingegen gesellschaftlichen Bedingungen. Was es bedeutet, weiblich oder männlich zu sein, dies bestimmt weitgehend der Einfluss des Kulturraums und der Gesellschaft, in denen ein Mädchen oder ein Junge aufwächst, und die damit verbundenen geschlechterspezifischen Erfahrungen. Die Geschlechterrollen weisen eine spezifische Typologie auf, die sich in männlichen und weiblichen Verhaltensnormen, in Sitten, Gebräuchen und Vereinbarungen zeigt. Für die Entwicklung der Geschlechtsidentität sind die Jahre der frühen Kindheit sowie die Erfahrungen in Familie und Kindergarten von großer Bedeutung. Kinder setzen sich intensiv mit den Fragen auseinander, was es heißt, ein Mädchen oder ein Junge zu sein. Sie erleben, welche Rolle sie als Mädchen oder als Junge einnehmen dürfen und wollen wissen, welche ihrer Wünsche und Vorstellungen realisierbar sind. Ihre Antworten sind abhängig von den Vorbildern in der Familie, vom Geschlechtsrollenvorbild im Kindergarten und in den Medien sowie von den geschlechterbezogenen Erwartungen ihres Umfeldes. Im Austausch mit anderen entwickeln Mädchen und Jungen ihre soziale Geschlechtsidentität.
Das Kind entwickelt eine eigene Geschlechtsidentität, mit der es sich sicher und wohl fühlt. Der Kindergarten bietet dafür einen geeigneten Rahmen und gibt den Mädchen und Jungen die Gelegenheit, einengende Geschlechterstereotypen zu erkennen und traditionelle sowie kulturell geprägte Mädchen- und Jungenrollen kritisch zu hinterfragen. Mädchen und Jungen erwerben ein differenziertes und vielfältiges Bild der möglichen Rollen von Männern und Frauen. Die pädagogischen Fachkräfte reflektieren diesbezügliche Prozesse in der Gruppe und eröffnen den Jungen und Mädchen Möglichkeiten zur individuellen Konstruktion. Sie richten ihr Augenmerk insbesondere auf Gruppenprozesse, die einengend auf das Kind wirken.
1.2.3 Kinder mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund: interkulturelle Bildung
Kinder wachsen heute in einer kulturell und sprachlich vielfältigen Welt auf. Um sich darin bewegen und entfalten zu können, benötigen Kinder und Erwachsene interkulturelle Kompetenz, deren Entwicklung in einem engen Zusammenhang mit den sprachlichen Kompetenzen steht. So ist für viele Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund Mehrsprachigkeit selbstverständlich und notwendig; sie entsteht also nicht aufgrund einer bewussten Entscheidung der Eltern oder der Bildungseinrichtung für den Erwerb einer weiteren Sprache. Interkulturelle Bildung umfasst eine individuelle und gesellschaftliche Dimension. Die Bereitschaft, sich mit einer fremden Kultur offen auseinanderzusetzen, erfordert, dass man Akzeptanz und Wertschätzung für die eigene Person empfindet und in der eigenen Kultur gefestigt ist und sich dieser zugehörig fühlt. Interkulturelle Kompetenz beinhaltet insbesondere kulturelle Aufgeschlossenheit und Neugierde sowie eine mehrsprachige Orientierung und die Fähigkeit, mit Fremdheit umzugehen. Sie eröffnet individuelle Lern- und Lebenschancen und ist zugleich Grundlage für das konstruktive und friedliche Miteinander von Individuen und Gruppen mit unterschiedlichen sprachlichen, kulturellen und religiösen Traditionen. Interkulturelle Kompetenz ist Bildungsziel und Entwicklungsaufgabe für die Kinder und Erwachsenen unseres Landes, aber auch für die Menschen, die von anderen Ländern zuziehen und sich in Südtirol niederlassen. Im interkulturellen Miteinander gilt es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu entdecken, Mehrsprachigkeit und Multikulturalität als Chance wahrzunehmen, miteinander und voneinander zu lernen. Pädagogik der Vielfalt bedeutet auch vorurteilsbewusste Pädagogik, die selbstverständliche kulturspezifische Erwartungen thematisiert und reflektiert. Durch die Begegnung mit Kindern anderer Sprachen und Kulturen lernt und erlebt das Kind ein selbstverständliches Miteinander. Es hat Interesse und Freude daran, andere Kulturen und Sprachen kennen zu lernen, sich damit auseinanderzusetzen und sie zu verstehen. Gleichzeitig beschäftigt sich das Kind mit der eigenen Herkunft und reflektiert die eigenen Einstellungen und Verhaltensmuster.
1.2.4 Kinder mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund
Aufgrund des unterschiedlichen sozialen Hintergrunds ihrer Familien ergeben sich für Kinder auch große Unterschiede hinsichtlich ihrer finanziellen Ressourcen, ihrer Wohn- und Lebensumstände, ihrer Alltagserfahrungen und Freizeitaktivitäten. Während sich Schutzfaktoren wie gutes Familienklima, enge Freundschaften, sprachliche Fähigkeiten oder ausreichende Lern -und Erfahrungsräume risikomindernd auswirken können, erhöhen längere Armutsdauer, Bildungsferne oder Arbeitslosigkeit der Eltern das Risiko lebenslanger Armut. Familiäre Problemsituationen können die Entwicklungschancen und die Lernfähigkeit eines Kindes beinträchtigen. Deshalb sind Kinder mit einem solchen Benachteiligungsrisiko besonders auf eine vorbeugende und ausgleichende Unterstützung durch den Kindergarten angewiesen.
Der Kindergarten trägt dazu bei, die Lern- und Lebenschancen von Kindern aus sozial benachteiligten Familien zu verbessern und gute Entwicklungsmöglichkeiten für sie zu sichern. Wichtig ist, benachteiligende Familiensituationen so früh wie möglich zu erkennen sowie den Betroffenen bedarfsgerechte Hilfen anzubieten und ihnen durch ein vernetztes Vorgehen nachhaltige Unterstützung zu gewährleisten. Dazu ist eine gute Zusammenarbeit mit den zuständigen soziosanitären Fachdiensten und den Beratungsstellen im Bildungssystem erforderlich. Das Unterstützungsnetz hat die Pflicht, Hilfen anzubieten, die der Entstehung von Entwicklungsschäden präventiv entgegenwirken. Pädagogisches Handeln knüpft an den vielfältigen Kompetenzen und Bewältigungsstrategien der betroffenen Kinder und ihrer Familien an und hilft im Rahmen eines sorgsam geplanten Handlungskonzeptes. Es liegt u. a. in der Verantwortung des Kindergartens, einer Diskriminierung von sozial oder ökonomisch beeinträchtigten Familien und deren Kinder wirksam entgegenzutreten.
1.2.5 Kinder mit besonderen Begabungen
Kinder mit besonderen Begabungen haben ein außergewöhnliches Potenzial. Hochbegabung lässt sich prinzipiell in allen Bereichen kindlicher Entwicklung feststellen. In der Regel zeigt sie sich in bestimmten Persönlichkeitsdimensionen. Diese umfassen insbesondere den motorischen, emotionalen, sozialen, künstlerischen und kognitiven Bereich.
Die pädagogischen Fachkräfte haben die Aufgabe, durch entwicklungsangemessene und kindspezifische Aktivitäten den Herausforderungen gerecht zu werden, die aus den spezifischen Begabungen der Kinder resultieren. Materialangebot und Bildungsformen orientieren sich an ihren speziellen Lernbedürfnissen, Interessen und Vorlieben. Kinder mit besonderen Begabungen sind wie andere Kinder auf Anerkennung ihrer Leistungen angewiesen. Das Miteinander von Kindern unterschiedlichster Talente und Begabungen bietet vielfältige Möglichkeiten zur Stärkung ihrer sozialen Kompetenz und zur Optimierung gemeinsam organisierter Bildungsprozesse.
Auch Kinder mit besonderen Begabungen benötigen eine ganzheitliche Unterstützung in ihren Entwicklungs- und Lernprozessen. Alle Bildungsfelder und Entwicklungsbereiche müssen angemessen berücksichtigt und jeweils auf die besondere Individualität und den besonderen Lernbedarf abgestimmt werden.
1.2.6 Kinder mit Beeinträchtigung und erhöhtem Entwicklungsrisiko
Es gibt Kinder, die in ihrer Entwicklung auffällig, gefährdet oder beeinträchtigt sind und einen besonderen Begleitungs-, Unterstützungs- und Förderbedarf aufweisen.
Eine Beeinträchtigung liegt nach dem Internationalen Klassifikationssystem (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) dann vor, wenn Funktionsbeeinträchtigungen oder Funktionsmängel aufgrund von Schädigungen den Lebensalltag von Kindern beeinträchtigen. Behinderung ist laut ICF hingegen grundsätzlich ein Faktor des Umfeldes und kann durch entsprechende Interventionen vermieden oder zumindest gemildert werden. Dieser Definition liegt ein Menschenbild zugrunde, das die Fähigkeiten und Stärken eines Menschen in den Vordergrund stellt. Eine solche Sichtweise bildet die Grundlage sowohl für die Diagnostik als auch für die pädagogische Praxis.
Kinder, die mit deutlich erhöhtem Entwicklungsrisiko aufwachsen, werden im Kindergarten und oft bereits in der Familie aufgrund von Verhaltensbesonderheiten oder ungewöhnlichen Entwicklungswegen erkannt, wobei die Ursachen vielfältig sein können. Aufgrund ihres erhöhten Entwicklungsrisikos kann die Teilhabe dieser Kinder am Leben in der Gemeinschaft manchmal begrenzt oder gefährdet sein.
Unterstützung dieser Jungen und Mädchen hat sich in Südtirol das Konzept der inklusiven Bildung positiv verankert. Inklusive Bildung richtet sich an alle Kinder und strebt eine Reduzierung sämtlicher Benachteiligungen in der Bildung an. Die Teilhabe am Leben der Gemeinschaft, in der jeder und jede respektiert und geschätzt wird, ist die beste Grundlage für die Entwicklung aller Kinder und bietet die Möglichkeit, die Unterschiedlichkeit als Bereicherung für das Lernen zu nutzen. Die Verwirklichung dieser Beteiligung erfordert eine enge Zusammenarbeit von Kindergarten, Familie und sozio-sanitären Diensten. Die Kooperationspartner Kindergarten, Familie und Fachdienste bringen hierbei ihre jeweiligen Leistungen und Möglichkeiten ein und vernetzen sie zu einem ganzheitlichen Konzept, das im Kindergarten zum Tragen kommt.
Kindergärten tragen den sehr unterschiedlichen Situationen von Kindern mit Beeinträchtigung und Entwicklungsrisiken durch ein abgestuftes Unterstützungskonzept Rechnung. Dieses wird mit dem Ziel einer uneingeschränkten Teilhabe am Leben der Gemeinschaft auf den folgenden drei Ebenen wirksam:
- Primärprävention: verhindern, dass Entwicklungsprobleme entstehen
- Sekundärprävention: frühzeitig eingreifen, wenn Entwicklungsrisiken erkennbar sind
- Rehabilitation: bei Beeinträchtigung angemessen unterstützen.
Im Begleiten der Kinder mit erhöhtem Entwicklungsrisiko sind für Kindergärten neben der pädagogischen Arbeit die Aspekte Früherkennung, Kooperation und der Einsatz sekundärpräventiver Programme bedeutsam. Bei vielen dieser Kinder ist eine Diagnostik, Beratung, Förderung und therapeutische Begleitung durch die Fachdienste erforderlich.
Die Aufnahme von Kindern mit Beeinträchtigung bedarf einer frühzeitigen sorgfältigen Planung, vertiefter Gespräche mit der Familie und den Fachdiensten, einer Reflexion der Gruppenzusammensetzung und eines gemeinsamen pädagogischen Konzepts. Zugleich erhalten Kinder mit Beeinträchtigung eine spezifische, therapeutische Förderung, die in das pädagogische Angebot des Kindergartens eingebettet und mit diesem vernetzt wird. Pädagogische Fachkräfte des Kindergartens, Familien und Spezialisten der Fachdienste planen gemeinsam die notwendigen diagnostischen Untersuchungen, das pädagogische Vorgehen in der Gruppe und die therapeutischen Leistungen. Entscheidungen werden für alle transparent vorbereitet und gemeinsam getroffen. Alljährlich werden in dieser Kooperation der Individuelle Bildungsplan und beim Übertritt in die Grundschule das Funktionelle Entwicklungsprofil erstellt.
Eine differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit aller am Bildungsprozess beteiligten Personen, der Austausch darüber und das Wissen um die Lernmöglichkeiten des Kindes sind die Basis für die Festlegung von Bildungszielen, für die Planung weiterer Maßnahmen, für die bestmögliche Begleitung des Kindes auf seinem individuellen Lernweg, für die Partizipationsmöglichkeit aller Kinder und somit für die Verwirklichung inklusiver Bildung. Die Unvoreingenommenheit der Kinder gegenüber Kindern und Erwachsenen mit Beeinträchtigung weist den Weg zur Verwirklichung inklusiver Bildung.